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Perlow und Potaschow





 

Ich warte auf Fragen, die niemand mir stellt. Einige dieser Fragen könnte ich beantworten, andere nicht. Aber die Antwort spielt oft auch keine Rolle. Wichtig ist allein, dass jemand sich so sehr für mich interessiert, dass er mir eine wichtige und persönliche Frage stellt. 

Ich bin natürlich nicht alleine. Wir alle warten auf Fragen, die niemand uns stellt. Manchmal laufe ich durch die Stadt, schaue mir die Menschen an und überlege, auf welche Fragen sie wohl warten. Die Frau mit dem kleinen Kind, der Mann mit der Sporttasche, die beiden Teenager, die auf ihr Handy starren, um sich zu schminken.  

Ich glaube nicht, dass es dabei um große philosophische Fragen geht, nicht darum, was der Sinn des Lebens ist, ob es Gott gibt und wie das Universum entstanden ist, sondern um simple, intime Fragen. Fragen, wie unser Leben.

Möchtest du, dass ich dich umarme? Wer bist du?  Brauchst du Hilfe? Warum bist du so traurig? Womit musst du deinen Frieden finden? Wie wäre es, wenn wir weggehen, einfach verschwinden und ein neues Leben beginnen?

Aber die Frage dieser Geschichte ist eine andere:

Was geschah am 31. August 1991 in Tokio und was bedeutet es?

 

 

 

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Regen. Regenpfützen auf der Laufbahn, Regen, der an den durchsichtigen Ponchos der Wettkampfrichter und der Helfer herunter lief, Regen, der die Laufschuhe der Teilnehmer aufweichte. 

Die Zuschauerränge im Olympiastadion Tokio waren leer. Es war noch früh am Morgen, es regnete und überhaupt interessierte sich kaum jemand für den kommenden Wettbewerb über 50 Kilometer Gehen. Das war halt kein Sprint über hundert Meter, kein Speer, der den Himmel schnitt und sich weit entfernt vom Werfer in den Rasen bohrte, kein Weitsprung und kein Zehnkampf, sondern eine Sportart wie aus dem Kuriosenkabinett.

Seltsam, wie man sich bei diesem “Sport” fortbewegte. Die Regeln schrieben vor, dass ein Fuß Kontakt zum Boden haben und das vordere Bein beim Aufsetzen gestreckt sein musste, aber das alles machten die Sportler in einem solch raschen Tempo, dass es unnatürlich aussah. Sie nannten es Gehen, aber war es das noch? Und die Geschichte stand ihnen auch nicht bei, denn ihre Strecke umfasste nun einmal fünfzig Kilometer und nicht die fabelhaften 42,195 Kilometer eines Marathons.

Und wo war der Sex? Auf der Laufbahn standen dürre, ausgezehrte Männer, die so aussahen, als ob sie nicht genug zu essen bekamen. Sie waren so abgemagert, dass ihre Wangenknochen, Schulterblätter und der Brustkorb spitz hervor traten. 

Insgesamt 39 Athleten kämpften in Tokio um den Weltmeistertitel. Die meisten von ihnen würden das Ziel erreichen, einige aber auch unterwegs aufgeben. Unter den Teilnehmern die Favoriten des Wettkampfs - der amtierende Weltmeister Hartwig Gauder, der Finne Valentin Kononen, der Italiener De Gaetano und zwei Sportler aus der zusammenbrechenden Sowjetunion: Perlow und  Potaschow. Sie hätten mit diesen Namen die Helden eines Märchens sein können  - Perlow und Potaschow lebten in einem schiefen Haus hinter dem großen Wald - und vielleicht waren sie es ja auch.   

Auf einmal der Startschuss. Nichts dramatisches dabei, kein Satz nach vorne wie bei den Sprintwettbewerben, die Männer gingen einfach los. Der Deutsche Hartwig Gauder setzte sich an die Spitze, im Mittelfeld dahinter die Märchenfiguren aus der Sowjetunion. Perlov mit weißem Stirnband, Potaschow mit seinem wunderbaren dunklen Schnurrbart. Die Athleten eilten an Werbebannern von TDK, Phillips und Fuji vorbei, dann verliessen sie das Stadion. Die Straßen Tokios waren nass und leer, nur vereinzelt stand ein Zuschauer unter seinem Regenschirm und feuerte die Sportler an. Die einheimischen Streckenhelfer sahen mit ihrer weißen Kleidung und den Regenponchos wie Aufräumungsarbeiter nach einem Atomunglück aus. Wasser spritzte auf, wenn die Athleten in die Regenpfützen traten.  

Nach zehn Kilometern war das Läuferfeld zersplittert. Eine Gruppe aus dreizehn Männern führte den Wettbewerb an. An der Spitze mittlerweile die beiden Sportler aus der Sowjetunion. Ihre roten Lauftrikots waren Farbtupfer vor dem grauen, bewölkten Himmel. Potaschows dunkles Haar klebte in Strähnen auf seiner Stirn, Perlovs Stirnband war nass vor Schweiß und dem Regen. Die beiden Männer bewegten sich Seite an Seite fort.   

Bei Kilometer zwanzig war die Gruppe auf fünf Männer zusammen geschmolzen. Perlov und Potaschov führten die Gruppe weiterhin an, der amtierende Weltmeister Gauder dicht hinter ihnen. Derweil brachen immer mehr Männer ausgelaugt ab. Die Führungsgruppe war ebenfalls davon betroffen. Der Mitfavorit Ronald Weigel konnte nicht mehr mithalten, fiel  zurück und beendete schließlich Rennen. Enttäuscht stand er am Strassenrand und starrte seine Laufschuhe so an, als hätten sie ihn betrogen. Der Fernsehreporter  des BBC beschrieb die Wettbewerbsbedingungen bei solch einem feuchten und dennoch heißen Klima “als laufe man in der Sauna.” 

Kilometer um Kilometer blieb hinter den Athleten zurück. Fünfundzwanzig Kilometer, dreißig, schließlich die vierzig Kilometer Marke. Viele Wettbewerber schleppten sich nur noch mühsam vorwärts, aber den Märchenhelden Perlov und Potaschow schienen die Anstrengungen nichts auszumachen. Sie eilten weiter Seite an Seite, brachten Meter um Meter hinter sich sich zurück, bis schließlich auch der Deutsche Gauder nicht mehr mithalten konnte. Er fiel zurück, bis die roten Lauftrikots der sowjetischen Sportler nur noch Punkte in der Ferne waren. 

Der Regen hörte auf, die Sonne schien ab und zu durch die Wolken, und hinter den Absperrungen standen mittlerweile einige Zuschauer, welche Perlov und Potaschov anfeuerten. Diese gingen wie all die Kilometer zuvor Seite an Seite. Sie trennten sich nur, wenn sie einen langsameren Wettbewerber überrundeten.  Dann scherte der eine nach rechts,  der andere nach links aus und für einen Moment öffnete sich ein Loch zwischen ihnen, durch das der überholte Wettbewerber fiel. Einige Schritte später schmolzen die Beiden wieder zusammen und Seite an Seite ging es weiter.

Die Zuschauer am Straßenrand warteten darauf, wann einer der beiden die Entscheidung erzwang und sein Tempo beschleunigte, aber sie warteten vergebens. Auf gleicher Höhe schritten sie weiter, als sei dies kein Einzelwettbewerb, sondern ein Art seltsames Paarlaufen. 

Nach drei Stunden, fünfzig Minuten und einundvierzig Sekunden bogen sie ins Stadion ab. Die Zuschauer auf den Rängen klatschten und jubelten. Aber wer von den beiden würde gewinnen? Wer hatte noch Kraftreserven übrig? Wer würde zuerst angreifen? 

Noch eine Stadionrunde, und einer der beiden war Weltmeister. Noch eine Runde, dann lagen fünfzig Kilometer hinter ihnen. Aber Perlov und Potaschov schien es nicht zu kümmern, wer von ihnen den Wettbewerb gewann. Sie eilten weiterhin Seite an Seite die Laufbahn entlang. Sie hatten fünfzig Kilometer zurückgelegt und befanden sich doch auf den Zentimeter genau auf gleicher  Höhe. 

Die letzte Gerade, nur noch wenige Meter bis zum Ziel. Jetzt musste doch ein Angriff kommen, anders ging es doch gar nicht. Da! - Potaschov warf einen prüfenden Blick zu seinem Konkurrenten, sein linker Arm holte aus, fiel nun die Entscheidung? 

Doch der unverschämte Potaschov machte nicht, was sich im Sport so gehörte, denn er legte seinen Arm um die Schulter des Mannschaftskollegen Perlov. Und dieser reagierte auf gleicher Weise: Er legte seinen Arm um die Schulter von Potaschov. So überschritten die beiden Athleten Arm in Arm die Ziellinie. 

Anschließend umarmten sie sich lange, klopften einander auf die Schulter und reckten die Arme jubelnd hoch. Sie hatten gemeinsam gewonnen. 

Seite an Seite drehten sie die Siegerrunde und winkten den klatschenden Zuschauern zu. Zuerst gingen sie wie all die Stunden zuvor, aber dann zogen sie das Tempo an und liefen. Als Perlov am Ende der Runde einige Schritte zurück blieb, drehte Potaschov sich um und wartete auf seinen Freund. 

Zwei Männer, die nach fünfzig Kilometern Arm in Arm im Ziel ankamen. Zwei Männer, die stundenlang Seite an Seite gingen und gleichzeitig die Ziellinie überschritten. Zwei Sieger, zwei Weltmeister, so musste es doch sein.  Aber die Wettkampfrichter waren anderer Meinung, denn schließlich musste alles alles seine Ordnung haben: Erster, Zweiter, Dritter. Sie studierten das Zielfoto und kamen zu dem Schluss, das Potaschows rechter Fuss  einen Augenblick früher die Ziellinie passierte. So kam es, dass Potaschov mit der Zeit 3:59:09 zum Weltmeister erklärt wurde und Perlov mit derselben Zeit 3:59:09 nur Zweiter war. Der eine bekam Gold, der andere Silber. Und bei der Medaillenvergabe stand Potaschov nicht Seite an Seite bei seinem Freund, sondern ein gutes Stück höher auf der Siegertreppe.  

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Ich denke oft über den 31. August 1991 nach. Für mich ist es ein Wassertropfen, in dem wir Menschen und unsere Welt sich spiegeln. Ein Wassertropfen mit viel Licht und noch mehr Dunkelheit. 

In diesem Tropfen sehe ich, dass es anscheinend doch so etwas wie Hoffnung für uns gibt, denn Menschen können sich wie Perlov und Potaschov verhalten. Aber jetzt Schluss mit der Märchenstunde und willkommen zurück im richtigen Leben. Was spielt es schon für eine Rolle, was Menschen wie Perlov und Potaschov machen. Am Ende entscheiden andere, und die sorgen schon dafür, dass die Hoffnung, falls sie einmal aufflackert, schnell wieder erlischt.

Ein Jahr später gewann Perlow bei den olympischen Spielen in Barcelona die Goldmedaille. Er setzte sich auf den letzten zehn Kilometern von den anderen Teilnehmern ab und kam im Ziel mit zwei Minuten Vorsprung an. Er hatte seine Lektion gelernt: es gibt in einem Wettbewerb nur Konkurrenten, und die Ziellinie überschreitet man alleine und als erster.

Ich frage mich: Was für Lektionen haben wir wohl gelernt?

Und noch wichtiger: Was haben diese Lektionen aus uns gemacht?

Ich habe keine Antwort auf diese Fragen. Nur ein Gefühl: Angst. 

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